Moskauer orthodoxer Priester und Anthropologe Andrej Lorgus bei «Pro Oriente»-Symposion in Wien: «Viele Menschen entdecken jetzt die Kirche»
Wien, 21.10.02 (KAP) In Russland nimmt die Suche der Menschen nach einem neuen Selbstverständnis und einem neuen Verhältnis zu Staat, Gesellschaft und Kirche erst jetzt, mehr als zehn Jahre nach der politischen «Wende», deutlichere Konturen an. Wie der Moskauer russisch-orthodoxe Priester Andrej Lorgus - Ordinarius an der «Russländischen Orthodoxen Universität zum Heiligen Johannes dem Täufer» - bei einem «Pro Oriente»-Symposion in Wien feststellte, entdeckten viele Menschen für sich wiederum die Kirche, «meist allein, ohne fremde Hilfe». Diese neue religiöse Welle habe völlig unerwartet eingesetzt. Die neue Religiosität sei jedoch keine traditionelle, sondern «etwas Neues; die Traditionen waren zur Gänze abgebrochen, und man kann sie auch nicht wiederherstellen», so Lorgus. Diese Religiosität stehe auf einem «unbeschriebenen Blatt» (tabula rasa).
Weiter sei zu beobachten, dass der «neue Russe» ein Mensch «einer erstaunlichen Vermischung der Kulturen» sei, «und zwar nicht nur der modernen Kulturen, sondern auch der vergangenen und virtuellen». So könne man Eigenschaften bemerken, die aus amerikanischen und lateinamerikanischen Kinofilmen und Fernsehserien stammten. Einige Eigenschaften kämen aus der traditionellen russischen Kultur, jedoch nicht direkt aus der Generation der «Väter», sondern aus einer gewissen Ersatzkultur, dem Slang, der Mythologie und der Popkultur.
Auch ein neuer Humanismus übe einen starken Einfluss aus. Er sei aber weltanschaulich schwer einzuordnen. «Es ist ein besonderer Typ eines natürlich-fundamentalen Humanismus, der mit den Werten der Familie und des Volkes verbunden ist», so Lorgus.
Eine erfreuliche Erscheinung sei die phänomenale Bedeutung der Bildung, der literarischen Kultur, der Wissenschaften, Künste, der Volkskunst und des Handwerks. In Russland seien Hunderte neuer Hochschulen und Universitäten entstanden. So etwas habe es in Russland noch nie gegeben, auch wenn viele Menschen nicht immer die Bildung selbst interessiere, sondern die Möglichkeit, damit Karriere zu machen.
Stark bemerkbar sei auch ein ungewöhnlicher Aufschwung des Unternehmertums - abseits von den im Mittelpunkt des Medieninteresses stehenden Großunternehmern mit ihren politischen Ambitionen. Es habe sich ein Typ des kleinen und mittleren Unternehmers entwickelt, «der entgegen seinen Erwartungen reich geworden ist und nicht weiß, was er mit diesem Reichtum machen soll», stellte Lorgus fest.
Diese neuen Entwicklungen treffen laut dem Priester und Anthropologen aber vor allem auf die junge Generation zu. Vor allem jene Russen, die noch im Sowjetsystem aufgewachsen sind, seien nach wie vor Denk- und Lebensmustern verhaftet, die das Kollektiv über das Individuum stellen.
Kathpress
21. oktober 2002