Leiter des Außenamts des Patriarchats, Metropolit Kirill, schrieb an Giscard D'Estaing - Unbehagen über Privatisierung der Religion
Moskau-Brüssel, 21.2.03 (KAP) In einer künftigen Verfassung der Europäischen Union sollte auf das christliche Erbe Europas Bezug genommen werden, forderte der Leiter des Außenamtes des Moskauer Patriarchats, Metropolit Kirill, in einem Schreiben an den Vorsitzenden des EU-Konvents, Valery Giscard d'Estaing. Die russisch-orthodoxe Kirche sei an der Erarbeitung der neuen europäischen Verfassung interessiert, weil dieses Regelwerk bald das Leben vieler europäischer Länder einschließlich ihrer orthodoxen Bewohner, aber auch die Beziehungen zwischen der EU und ihren östlichen Nachbarn prägen wird. Wörtlich stellte der Metropolit fest: «Ein Europa, das die Religion und vor allem das Christentum als eine seiner fundamentalen Lebensquellen zurückweist, kann für viele Menschen, die in der Union leben, nicht wahrhaft Heimat sein».
Metropolit Kirill betonte, dass die Position des Moskauer Patriarchats im Hinblick auf den ersten Teilentwurf der europäischen Verfassung weitgehend mit den Stellungnahmen der orthodoxen Kirche von Griechenland, der Kommission der katholischen Bischofskonferenzen des EU-Raumes (ComECE) und der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) übereinstimme. Die Anerkennung des christlichen Erbes - «neben anderen religiösen Traditionen und säkularen Ideengebäuden» - würde hilfreich sein, um zu vermeiden, dass «die Werte der Union einseitig interpretiert werden».
Zugleich trat der Leiter des Außenamtes des Patriarchats auch dafür ein, einen Konsultationsmechanismus zwischen den Religionsgemeinschaften und den EU-Organen zu schaffen. Ebenso sollte klar festgelegt werden, dass die Regelung der Kirche-Staat-Beziehungen Sache der einzelnen Mitgliedsstaaten ist. Diese Festlegung könne durch Übernahme der «Amsterdamer Erklärung» (Appendix 11 des Amsterdamer Vertrags) in die Verfassung erfolgen.
Den Kirchen gehe es bei ihren Stellungnahmen zum Verfassungsentwurf nicht um «enge Eigeninteressen»; unterstrich der Metropolit. Vielmehr sei für die Kirchen die Sorge um Überzeugungen und Lebensstil der Gläubigen im künftigen Europa ausschlaggebend. Viele Menschen hätten den Eindruck, dass Religion zur Privatsache reduziert werde; man sehe die Gefahr einer Ideologie, die sich ausschließlich auf das irdische Wohl der Europäer, ihre materielle Prosperität und freie Selbstverwirklichung ohne Bezug auf moralische Werte konzentriere. Metropolit Kirill erinnerte an die russischen Erfahrungen unter dem Kommunismus: In der UdSSR sei das religiöse Leben auf die Privatsphäre beschränkt gewesen, jedes religiös motivierte Handeln in der Öffentlichkeit sei verfolgt worden, weil es nicht der herrschenden Ideologie entsprach. Auch im ersten Teilentwurf der neuen europäischen Verfassung werde zwar die Religionsfreiheit des einzelnen geschützt, aber es gebe keine Festlegungen, die garantieren, dass bei wichtigen Entscheidungen über die Zukunft der Gesellschaft auch eine religiöse Lebensphilosophie in Betracht gezogen werden kann.
Die im Verfassungsentwurf genannten Werte wie Menschenwürde, Freiheit, Herrschaft des Rechts, Toleranz und Solidarität seien begrüßenswert, betonte der Leiter des Außenamtes des Moskauer Patriarchats. Die Gläubigen hätten aber Sorge um die Interpretation dieser Werte, wenn es um praktische Entscheidungen etwa im Bereich von Ehe und Familie, der biomedizinischen Forschung, der Informations- und Kulturpolitik gehe. Auf der Unionsebene gebe es ständig Bestrebungen, Festlegungen zu treffen, die nicht den religiösen und philosophischen Überzeugungen einiger Nationen entsprechen. Als Beispiel nannte der Metropolit den im Jänner angenommenen Menschenrechtsbericht des Europäischen Parlaments, in dem für die Anerkennung homosexueller Lebensgemeinschaften und die Zugangsmöglichkeit von Frauen zum Berg Athos votiert wurde.
Generell bestehe der Eindruck, dass der Verfassungsentwurf in erster Linie von den Werten eines «anthropozentrischen Humanismus» geprägt werde, während die religiös-nationalen Werte in den Hintergrund treten. Glaube, heilige Orte, die Möglichkeit, ein integral religiöses Leben zu führen, die Idee des Vaterlands seien aber für viele Menschen nicht weniger bedeutsam als materieller Wohlstand, Gesundheit und irdisches Glück. Es dürften nicht im Namen von Menschenrechten und Demokratie Regelungen erzwungen werden, die den religiösen Traditionen der orthodoxen Länder widersprechen.
Kathpress
21. februar 2003